Nach dem dritten Bier traute sich mein Gegenüber dann doch, die alles entscheidende Frage zu stellen: »Du bist Buchhändler? Kann man davon leben?« Ich schaute noch nicht einmal überrascht, habe ich die Frage doch in allen Variationen und in allen Phasen meines Berufslebens schon gehört. Das irritierte den Mann in der Kneipe sehr. »Ich meine, wer liest schon noch? Und wenn, geht man doch in eine Buchhandlung, die alles hat. Ich bestelle zum Beispiel immer bei amazon.«Jetzt war es raus. Gleich drei Statements, alle davon sollten sitzen und endlich, jetzt wurde der große Online-Bruder direkt beim Namen genannt: amazon. Normalerweise würde ich mein Bier austrinken, zahlen, meinem Tischnachbarn einen guten Abend wünschen und gehen. Heute aber war es anders. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das Ende der Bescheidenheit sei gekommen. Ob er es begreift oder nicht, ich würde ihm meine Sicht der Dinge erklären.
Obwohl es natürlich mehrere andere große Anbieter gibt, steht der Name amazon für Online-Buchhandel so wie Maggi für flüssige Suppenwürze oder Tempo für Papiertaschentücher. Und das, was amazon kann, ist jedem bekannt, werden die Vorzüge doch immer gebetsmühlenartig heruntergeleiert; es ist aber auch genauso schnell erzählt. amazon hat eine riesengroße Auswahl, sie liefern schnell und zuverlässig, außerdem kann jeder von zu Hause, aus dem Büro oder wo auch immer er sich befindet, seine Bestellung tätigen. Ja, und? Frage ich da nur.
Es gibt diese technischen Möglichkeiten, also nutzen wir sie auch – gerne und selbstverständlich! Jeden Tag erreichen uns Bestellungen, die übers Internet getätigt wurden. Auch hier genügt ein Mausklick und meine Kunden haben Zugriff auf 450.000 verschiedene Titel. Die Bücherdatenbank, der wir angeschlossen sind, ist eine der größten in Europa. Das ist unser Zentrallager, wenn man so will, unsere Festplatte. Der Zugriff darauf dauert nur einen Tick länger als der auf den Arbeitsspeicher, also unsere Buchhandlung. Aber im Gegensatz zu amazon sind wir noch nicht einmal stolz darauf. Die Möglichkeit, ein bestimmtes Buch zu finden und rasch zu bestellen, ist natürlich sehr hilfreich, aber eigentlich kommt es doch darauf an, den Blick auf Wesentliches zu lenken und den Lesern überhaupt die Chance zu geben, stöbern zu können.
Das Wort »stöbern« hat ja das Internet auch für sich vereinnahmt: to browse – stöbern. Gebe ich in meinen Browser »Liebe« und »Buch« ein, findet er in 0,17 Sekunden ungefähr 35 Millionen Einträge. Unmöglich dort zu stöbern. Es ist paradox: durch den Blick auf alles findet man das Einzelne nicht – und das sucht man ja schließlich. Bei amazon reduziert sich die Trefferquote natürlich. Hier findet man »nur« 17.715 Einträge. Kommen Sie aber in meine Buchhandlung, zeigen meine Kolleginnen Ihnen wahrscheinlich nur zehn oder zwanzig »Treffer«. Diese Bücher kennen wir aber und können Sie Ihnen ans Herz legen.
Überhaupt kennen wir Sie – unseren Kunden – ganz gut. Schon bei unserem Einkauf überlegen wir ja, welches Buch zu welchem Kunden passen könnte. Spätestens jetzt interveniert mein Gesprächspartner, keiner mache das besser als amazon. Bestelle er ein Buch, macht amazon ihm sofort neue Angebote. Und obendrein seien die Rankinglisten zu allen nur erdenklichen Themen ebenfalls sehr hilfreich. Mmh! amazon ist natürlich gut, wenn es um Mainstream geht, da gebe ich ihm recht. Nur, reicht das?
Die Tipps, die amazon mir gibt, richten sich immer nach dem, was ich recherchiert oder bestellt habe. Kaufe ich einen Krimi, empfiehlt er mir zwei weitere. Bestelle ich den »Duden«, fragt er mich, ob ich »Wahrig, Deutsches Wörterbuch« nicht auch haben möchten. Für eine Kundin haben wir mal das »Lehrbuch der Zahntechnik, Band 1« nachgeschlagen. »Lehrbuch der Zahntechnik, Band 2« könnte Ihnen auch gefallen, war der ultimative Hinweis, der im Bruchteil einer Sekunde auf dem Bildschirm zu lesen war.
Eine Freundin gestand mir, dass sie vor einer Weile einen sogenannten Beißerroman, einen suberotischen Am-Strand-lesen-und-dann-weg-damit-Titel bestellt hat. Die Bücher, die sie jetzt dauernd vorgeschlagen bekommt, findet sie schon lange nicht mehr lustig. Wer sich von amazon beraten lässt, kann seinen eigenen Horizont nicht erweitern. Der Büchermarkt wird eben nur nach meinen eigenen Interessen durchkämmt. Die beste Datenbank der Welt kann nicht leisten, dass man zum Beispiel in einem Romanalphabet einer Buchhandlung Uwe Timm sucht, kurz vorher aber über Antonio Tabucchi stolpert.
Eine Buchhandlung verlangt seinen Kunden eben einen gewissen Spürsinn ab, da bleiben angenehme Überraschungen nicht aus. Die Entscheidung, ein Buch einzukaufen, beruht bei amazon ausschließlich auf Rentabilitätsberechnungen. Ob sie es glauben oder nicht, das sieht bei einem Buchhändler, der seinen Beruf mit Leidenschaft ausübt, völlig anders aus. Auch er kennt natürlich nicht sämtliche Bücher, die er einkauft, aber Sie können sicher sein, er hat sich zu jedem Buch seine Gedanken gemacht. Stundenlang sitzen Verlagsvertreter in unserer kleinen Küche. Wir trinken literweise Kaffee und sprechen über Neuerscheinungen. Jeder unserer Mitarbeiter möchte bei den Gesprächen dabei sein, um möglichst viele neue Informationen aufzusaugen. Selbstverständlich geht es dabei auch um Wirtschaftlichkeit und Verkäuflichkeit, schließlich möchten wir uns alle unser Leben gut einrichten. Aber darum kümmern wir uns nicht in erster Linie.
Zunächst geht es immer um Inhalte. Plötzlich entdecken wir dann das Buch – unser Buch – von dem schnell klar wird, von dem verkaufen wir viele Dutzend, obwohl es nie in irgendeiner Bestsellerliste auftauchen wird, höchstens in unserer eigenen Bestenlisten, die wir intern einfach Schmitzliste nennen.
Ich gebe ja zu, auch ich habe schon bei amazon Bestellungen getätigt. CDs hauptsächlich. Unabhängige Plattenläden sind ja noch viel seltener geworden, trotzdem gibt es ein paar Kilometer entfernt einen Laden, der Rock Store heißt. Das Prinzip Rock Store ist kein neues. Du gehst da hinein, schaust dich um, hörst in ein halbes Dutzend Platten, dann kommt der Chef und drückt dir noch andere in die Hand und ich kann davon ausgehen, da sind Treffer bei, auf die ich nie alleine gekommen wäre. Überhaupt scheint in Plattenläden genauso wie in kleinen Buchhandlungen immer noch sehr viel miteinander geredet zu werden.
Diese klare Kommunikation hilft dann auch dem Kunden. Ideen entstehen nämlich immer in einem Miteinander, im gemeinsamen Gespräch. Da haben wir schon Lösungen gefunden, nicht nur auf die Frage, was man Tante Else am besten zur Goldhochzeit schenken kann, sondern auch auf Probleme der allgemeineren Art. So vermittelt man schnell mal eine Mitfahrgelegenheit, passt eine Stunde auf den Hund auf oder tauscht Kochrezepte aus.
Aber die Rankinglisten? Helfen die gar nicht? Mein Gegenüber lässt nicht locker. Moment, diese Rankinglisten sind doch Bestsellerlisten. Reden wir hier über börsennotierte Unternehmen? Die Gemeinsamkeit von DAX und Bestsellerlisten ist doch, dass es bei der Rangfolge immer nur um Geld geht. Das macht ja eigentlich eine Buchrangliste absurd. Es geht doch vielmehr um Ideen, Gedanken, Geschichten. Eine gute Verkäuflichkeit hat aber nichts mit Qualität zu tun. Auf der Bestsellerliste von amazon befinden sich aktuell unter den TOP 20 das »BGB«, das »HGB« und die »Arbeitsgesetze« (diese Liste wird für das Wohl des Kunden stündlich überarbeitet). Hilft uns das weiter?
Wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, wird der Buchhändler Ihnen nicht zwangsläufig das empfehlen, was auf der Bestsellerliste steht, warum auch? Er wird Ihnen ein Buch empfehlen, das zu Ihnen passt. Nicht mehr, nicht weniger. Wie dem auch sei, könnte mein Nebenmann einwerfen, Wasser findet seinen Weg. Die eine Ordnung fällt, die andere kommt. Der Onlinehandel wird den Einzelhandel in eine kleine Nische drücken, wenn nicht gar ganz verdrängen. Das mag sein, würde ich dann antworten. Aber was ist der Preis, den man zu bezahlen hat?
In der letzten Woche habe ich mit Peter Kolling gesprochen, dem Geschäftsführer der literarischen Buchhandlung Proust. Der schimpfte nicht zu unrecht: »Die Leute lamentieren gegen Kulturverfall und entleerte Innenstädte, ärgern sich über 1-Euro-Shops, kaufen aber auf der grünen Wiese oder bequem von zu Hause.« Unsere Kinder wissen heute schon nicht mehr, was eine Wählscheibe oder was Bandsalat ist. Vielleicht fragen sie in einiger Zeit auch nach der Funktion des Buchhändlers. Doch das ist klar: Wenn es die Buchhandelsvielfalt nicht mehr gibt, sondern nur noch einige große Häuser und das Internet, gibt es bald die Verlagsvielfalt nicht mehr und somit fehlt dann auch die Buchvielfalt.
Bei Gartenteichbüchern ist das vielleicht zu verkraften, aber wenn man mal unterstellt, es würden keine Bücher mehr gedruckt, die sich zum Beispiel nicht mindestens 5.000-mal verkaufen in Deutschland, die Auswahl wäre stark eingeschränkt. Keine Versuche mehr, keine Experimente, Verlage würden nur noch Titel verlegen, die sich 100prozentig verkaufen. Kurze Zeit später würden viele Bücher dann gar nicht mehr geschrieben. Nicht auszumalen, hat doch selbst jeder große Schriftsteller mal klein angefangen. Nehmen wir nur das profane Beispiel Harry Potter. Die Startauflage des ersten Bandes war im Vergleich zu den Megaauflagen ab Band 4 verschwindend gering. Und überhaupt hat dieses Buch erst der kleine Handel groß gemacht – die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die es mit Begeisterung gelesen haben. All die Großbuchhandlungen, amazon mit eingeschlossen, haben die Paletten erst umgesetzt, als Frau Rowling bereits am Markt etabliert war.
Gar nicht auszumalen, was mit den vielen kleinen literarischen Verlagen passiert, die voller Enthusiasmus Bücher verlegen, die aber auf den kleinen und unabhängigen Buchhandel angewiesen sind. Der hilft ihnen nämlich in der Dichte, die Bücher an den richtigen Mann, die richtige Frau zu bringen. Jetzt rede ich die ganze Zeit vom unabhängigen Buchhandel und stelle fest, diese Definition trifft auf die Buchhandlung Schmitz überhaupt nicht zu. Wir sind sehr wohl abhängig. Wir sind abhängig von hervorragendem Personal, das ein Berufsleben lang engagiert arbeiten muss, und das für ein eigentlich viel zu kleines Geld. Von Verlagen, die von Saison zu Saison Autoren entdecken und gute Bücher machen. Von Vertretern, die in die Buchhandlung kommen und mit Leidenschaft Bücher verkaufen. Und von Ihnen, die nicht müde werden in unsere Buchhandlung zu kommen. Zur Belohnung gibt’s meistens ein Buch, das passt, manchmal einen Kaffee, ein längeres Gespräch, nicht immer nur über Bücher, und hoffentlich immer ein herzliches Lächeln.
Thomas Schmitz