Englischarbeit… Und gestern war dann die Beerdigung. Die Kirche in Frillendorf war bis auf den letzten Platz besetzt. Klar, meine alte Lehrerin war sehr beliebt, in der Gemeinde, in der Kantorei der Kreuzeskirche und überhaupt. Mit einem Halbsatz wurde auch an ihren beruflichen Werdegang erinnert. Der Rest war Trauerfeier und Messe in einer mehr oder weniger geglückten Kombination…
Hier und da wäre ich gerne aufgestanden und hätte den Trauernden erzählt, wie ich meine Englischlehrerin in Erinnerung behalten werde – nämlich als lebensfrohe couragierte Person, die alles für ihre Kinder gegeben hat.
Einem Schülervater, der sie einmal wegen einer in seinen Augen zu harten Entscheidung mit den Worten anging »Sie haben ja selbst keine Kinder«, erwiderte sie: »Doch, mindestens hundert.« Dabei baute sie sich energisch vor diesem Mann auf und erwartete angriffslustig ein Wortgefecht. Der Mann jedoch gab sich geschlagen. Das war 1972 und ich habe sie damals wie heute dafür bewundert. Es gab aber noch mindestens einen anderen weiteren Grund, weshalb wir diese Frau so sehr mochten. Vielleicht nicht alle, aber zumindest alle Jungens aus unserer Klasse.
Die neue Freizügigkeit, die ganzen Errungenschaften der 68er Generation hatten nämlich das Lehrerzimmer der kleinen Hauptschule im Essener Norden noch nicht erreicht. Unsere Lehrerin war die einzige Frau an meiner Schule, die nicht so prüde wie die Hauswirtschafts-, nicht so hochgeschlossen wie die Deutsch- und nicht so verklemmt wie die Kunstlehrerin war. Wir konnten uns einfach nicht satt sehen. Für mich war sie meine Kim Novak. Ich sehe sie immer noch in ihrem hellblauem Kleid, zu kurz als das wir pubertätsgestörten Jungen uns auf die anstehende Englischarbeit hätten konzentrieren können. Für einen Blick in den großzügigen Ausschnitt hätten wir alles gegeben. Dazu bekamen wir dann sogar eine reelle Chance.
»Wer eine Vokabel nicht weiß«, verkündete sie beim Austeilen der Aufgaben, »kann nach vorne kommen und mich fragen. Besser einen Punktabzug als die ganzen Arbeit versemmelt.«
Und wir gingen alle nach vorne. Franz-Bernd machte den Anfang, Detlef war der zweite, Holger der nächste. Alle nutzten wir die vielleicht zehn Sekunden direkt vor der Lehrerin, eine bessere Position gab es einfach nicht. Ich war ziemlich der Letzte, der den Gang ans Pult antrat. Dort angekommen stammelte ich, dass mir das deutsche Wort für AND entfallen sei. Sie schaute mich lange an und schüttelte dann den Kopf während sie UND auf einen Zettel schrieb. Dann lächelte sie und ich ging mit hochrotem Kopf zurück an meinen Platz.