Mein Dezember, Teil 1

 

Langsamkeit

Als Kind hatte ich eine ganz große Stärke: Langsamkeit. Wenig konnte mich aus der Ruhe bringen. Immer habe ich erst abgewägt. Zum Beispiel ob ich mir einen Riegel Schokolade schnell in den Mund stopfen sollte und damit meinen Anteil an der ganzen Tafel sicherte oder ob ich doch vielleicht so lange wartete, bis meine Geschwister ihre Schokolade längst aufgegessen hatten und ich sie dann mit genüsslichen Schmatzen zur Weißglut bringen konnte.

 

 

Da machte ich mir nicht immer Freunde. Auch nicht an Weihnachten. Vor der Bescherung wurde immer zu Abend gegessen. Drei von vier Kindern waren ziemlich schnell satt, damit es endlich losgehen konnte. Einer nicht. Einzig meine Tante schaffte es, mich aus meinen Trott zu bringen. Bei einem vorweihnachtlichen Abendessen stellte sie mir eine Kerze vor meinen Teller und zwar mit der Bemerkung, ‚damit der Thomas seinen Mund findet. ‘ Da war ich beleidigt und habe gar nichts mehr gegessen.

Deshalb konnte ich den kleinen Jungen so gut verstehen, der heute mit einem frisch erworbenem ‚Fahrschein‘ vor dem Kettenkarussell vor unserer Buchhandlung stand und lange überlegen musste, welchen Sitz er denn wählen sollte. Es machte ihm überhaupt nichts aus, eine Runde auszusetzen, um dann einen zweiten Anlauf zu nehmen. Er ging in Gedanken wohl alle Möglichkeiten durch: ist innen sicherer oder außen schneller? Setz ich mich neben die nervige Cousine oder neben den fremden Jungen? Suche ich mir einen Platz ganz für mich alleine? Irgendwann entschied er sich dann doch und nicht nur seine Eltern atmeten auf.
Und als das Karussell endlich Fahrt aufgenommen hatte und der Junge durch den Nachthimmel flog, war er der glücklichste unter all den Himmelstürmern.