Jutta B. ist in unserem Haus die Frau mit der größten Lebenserfahrung. Im November wurde sie neunzig Jahre alt. Mein letzter Gang an jedem Morgen, bevor ich das Haus verlasse, ist mit einem Becher Kaffee in der einen Hand und der Tageszeitung in der anderen die Treppe hinunter, hinein in das kleine Wohnzimmer, indem sie mich jeden Tag erwartet. Wir sitzen dann zusammen und reden miteinander. Das heißt, eigentlich redet sie, kommentiert die neuesten Nachrichten, erfreut sich an Lyrik und wenn jemand verreist, hat sie einen aufgeschlagenen Atlas vor sich – schließlich muss man ja informiert sein. Ab und an erzählt sie Begebenheiten von Früher. Das macht sie nicht häufig, schließlich möchte sie niemanden nötigen.
Gestern Mittag saßen wir eine Stunde bei einander und ich wollte es endlich wissen: Jutta, welche Erinnerungen hast du an Weihnachten?
Es sei immer ein ähnlicher Ablauf gewesen, erzählt sie mir zögerlich. Eine Woche vor dem Fest wurde das Hauschwein geschlachtet und verarbeitet, der Vater wäre einen Tag vor Heiligabend immer in den Wald gegangen um heimlich einen Tannenbaum zu schlagen, die gute Stube sei immer geheizt worden an dem Abend (übrigens das einzige Mal im ganzen Jahr) und ‚wir Kinder sind immer mit einem Gefühl von Erwartung und Beklemmung gleichermaßen in das Weihnachtszimmer gegangen, wenn das helle Glöckchen erklang.‘ Es wurde gesungen und jede der drei Schwestern bekam ihr Geschenk; eins, mehr nicht. Den Rest des Abends verbrachten die drei dann immer mit einem besonderen Tauschgeschäft.
„Natürlich gab für jede von uns einen süßen Teller und wir hatten eine große Freude daran zu tauschen, drei Haselnüsse zum Beispiel gegen eine Paranuss. Unsere jüngste Schwester zog dabei immer den Kürzeren, sie konnte nämlich noch nicht zählen.“
Man muss Menschen einfach nur lange genug zuhören.
„Da war noch etwas.“, erzählt Jutta leise in die Dämmerung hinein. „1943. Ich war längst Studentin in Freiburg und meine Schwester war in der Kinderlandverschickung ganz in der Nähe. Ich konnte sie also besuchen. Das Weihnachtssingen fand in einer klirrendkalten sternenklaren Nacht statt. Bald danach zog uns die Heimleitung an die Seite und steckte uns zwei Zugkarten in die Hand. Wir durften – damit hatten wir nie, nie gerechnet – am Tag darauf die lange Fahrt nach Hause antreten. Wo doch die Weihnachtszüge immer Frontsoldaten vorbehalten waren. Als Wegzehrung bekamen wir am Weihnachtsmorgen jede ein hartgekochtes Ei mit und als wir die eiserne Ration pellten, murmelte ein Soldat zum nächsten ‚Ein ganzes Ei für einen alleine. Dass es so etwas noch gibt! ‘
Ich wünsche Ihnen und Euch ein schönes Weihnachtsfest.
ts