An diesen Tag kann ich mich noch genau erinnern: Ich hockte an meinem Schreibtisch in einer kleinen Essener Buchhandlung als am späten Mittag die Nachricht durchsickerte, Heinrich Böll sei am frühen Morgen gestorben. Ich war sehr traurig. Bereits mit 16 habe ich seine ersten Romane gelesen, vor meinem Irland-Urlaub habe ich sein damals schon Jahrzehnte altes »Irisches Tagebuch« verschlungen und seine »Ungezählte Geliebte« ist für mich eine der schönsten Liebesgeschichten überhaupt. Heute, am 16. Juli jährt sich sein Todestag zum 25. Mal. Ist doch eine gute Gelegenheit, den großen Dichter wiederzuentdecken. Nach Rücksprache mit Kiepenheuer & Witsch, dem Hausverlag Heinrich Bölls dürfen wir Ihnen eine kleine Geschichte zu lesen geben. Wir sagen DANKE und haben uns für »Die ungezählte Geliebte« entschieden.
Die ungezählte Geliebte
Sie haben mir meine Beine geflickt und haben mir einen Posten gegeben, wo ich sitzen kann: Ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag, geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl zu schenken. Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, um so mehr strahlen sie, und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke… Aber ihre Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich verstehe, den Eindruck von Biederkeit zu erwecken.
Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschlagen und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich wütend bin, wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt an, manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz aufschlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Grosszügigkeit in einer fünfstelligen Zahl verströmen. Sie sind ja so glücklich! Sie reissen mir jedes Mal das Ergebnis förmlich aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an zu multiplizieren, zu dividieren, zu prozentualisieren, ich weiss nicht was. Sie rechnen aus, wieviel heute jede Minute über die Brücke gehen und wieviel in zehn Jahren über die Brücke gegangen sein werden. Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre Spezialität – und doch, es tut mir leid, dass alles nicht stimmt.
Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt – und sie kommt zweimal am Tage -, dann bleibt mein Herz einfach stehen. Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie in die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und alle, die in dieser Zeit passieren, verschweige ich ihnen. Diese zwei Minuten gehören mir, mir ganz allein, und ich lasse sie mir nicht nehmen. Und auch wenn sie abends wieder zurückkommt aus ihrer Eisdiele – ich weiss inzwischen, dass sie in einer Eisdiele arbeitet -, wenn sie auf der anderen Seite des Gehsteiges meinen stummen Mund passiert, der zählen, zählen muss, dann setzt mein Herz wieder aus, und ich fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist. Und alle, die das Glück haben, in diesen Minuten vor meinen blinden Augen zu defilieren, gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik ein: Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden…
Es ist klar, dass ich sie liebe. Aber sie weiss nichts davon und ich möchte auch nicht, dass sie es erfährt. Sie soll nicht ahnen, auf welch ungeheure Weise sie alle Berechnungen über den Haufen wirft, und ahnungslos und unschuldig soll sie sein und mir ihren langen braunen Haaren und den zarten Füssen in ihre Eisdiele marschieren, und sie soll viel Trinkgelder bekommen. Ich liebe sie. Es ist ganz klar, dass ich sie liebe.
Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel, der auf der anderen Seite sitzt und die Autos zählen muss, hat mich früh genug gewarnt und ich habe höllisch aufgepasst. Ich habe gezählt wie verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. Der Oberstatistiker selbst hat sich drüben auf die andere Seite gestellt und hat später das Ergebnis einer Stunde mit meinem Stundenergebnis verglichen. Ich hatte nur einen weniger als er. Meine kleine Geliebte war vorbeigekommen, und niemals im Leben hätte ich dieses hübsche Kind ins zweite Futur transportieren lassen, diese meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und dividiert und in ein prozentuales Nichts verwandelt werden. Mein Herz hat mir geblutet, dass ich zählen musste, ohne ihr nachsehen zu können, und dem Kumpel drüben, der die Autos zählen musste, bin ich sehr dankbar gewesen. Es ging ja glatt um meine Existenz. Der Oberstatistiker hat mir auf die Schulter geklopft und hat gesagt, dass ich gut bin, zuverlässig und treu. »Eins in der Stunde verzählt«, hat er gesagt, »macht nicht viel. Wir zählen sowieso einen gewissen prozentualen Verschleiss hinzu. Ich werde beantragen, dass Sie zu den Pferdewagen versetzt werden.« Pferdewagen ist natürlich die Masche.
Pferdewagen ist ein Lenz, zwanzig am Tage, und alle halbe Stunde einmal in seinem Gehirn die nächste Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz! Pferdewagen wäre herrlich. Zwischen vier und acht dürfen überhaupt keine Pferdewagen über die Brücke, und ich könnte spazierengehen oder in die Eisdiele eilen, könnte sie mir lange anschauen oder sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine ungezählte Geliebte…
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